Crysis
Crysis
04.09.2022
Welcome to the jungle
Wem es im Jahr 2007 beschieden war, Crysis spielen zu können, kam nicht nur in den Genuss eines sehr coolen Sci-Fi-Ego-Shooters im Dschungelszenario, sondern konnte sich hardwaretechnisch auch zu den oberen Zehntausend zählen. Weil das Spiel des deutschen Entwicklerstudios Crytek auf höchsten Einstellungen sogar damalige High-End-Rechner in die Knie zwang, musste ich es zum Release auf niedrigen bis mittleren Einstellungen spielen. Schön in diesem Zusammenhang übrigens, dass das kürzlich erschienene Remaster aller drei Crysis-Teile diese Tradition 15 Jahre später wohl erneut fortführt, weshalb ich mich direkt davon ferngehalten habe.
Bleiben mir also die wohligen Erinnerungen an lauschige Strandgänge im Tarnmodus des Nanosuits, durch den ich mich an meine unwissenden Gegner schleichen konnte, um sie dann zu greifen und im Stärkemodus in die Erdumlaufbahn zu prügeln. Hach, memories … ich schweife ab. Crysis war ein gutes Spiel, ebenso wie sein Nachfolger Crysis 2, der durch die Vereinfachung der Modi unseres Supersoldaten-Stramplers ein fluffigeres Gameplay erzeugte, dessen 08/15 Call of Duty-Weltenrettungs-Stadtzerbombungs-Explosionsfetischismus mir aber weniger zusagte. Teil 3 wiederum habe ich gar nicht erst gespielt.
In der Mathematik würde man von einer linearen Abflachung meines Interesses sprechen – oder so. Ehrlich gesagt habe ich da nie so richtig aufgepasst. Dafür fehlte mir einfach die Anwendbarkeit im Alltag. Damals hörte ich viel lieber in den Soundtrack von Komponist Inon Zur rein, der mir zu jener Zeit so gefiel, dass Crysis und dessen Addon Warhead insgesamt sechs 5-Sterne-Tracks bekamen und dabei halfen, das Franchise in meiner Top 10 Sci-Fi Scores auf Platz 4 zu befördern.
Nun höre ich ja für jede meiner Reviews in gewissenhafter Vorbereitung den kompletten Score noch einmal durch, um zu überprüfen, ob Vergangenheits-Mattis ein wahrer Musikconnaisseur war oder nicht. Und ich musste zum ersten Mal und mit Erschrecken feststellen, dass ich ein paar Abwertungen vornehmen musste. Natürlich kannte ich alle betroffenen Kandidaten, laufen sie doch in meiner Playlist rauf und runter. Wenn der Finger jedoch schon gewohnheitsmäßig zum Skip-Button zuckt, lässt das nichts Gutes vermuten. Und so kam es dann auch.
Tatsächlich muss ich mir wohl eingestehen, dass meine Wertungen aus dem Jahr 2007 (oder etwas später) wohl meinem Mangel an Alternativen geschuldet waren. Als ich die Stücke mit 5 Sternen versah, waren es einige der ersten meiner Sammlung und reihten sich neben Spielen wie The Elder Scrolls IV: Oblivion oder Battlefield: Bad Company 2 ein. Aber so, wie man irgendwann nicht mehr die edgy Indie-Band von damals hören kann (looking at you Ash), so verhält es sich scheinbar mit ein paar dieser Tracks. Da das hier allerdings keine Falling-Out-Of-Love-Story werden soll, kommt nun die 15 Jahre späte Review zum Soundtrack vom allerersten Crysis.
Zunächst einmal das Positive: Mit 22 Tracks und einer Dauer von ca. einer Stunde ist der Score angenehm umfangreich, ohne aufgebläht zu wirken. Totalausfälle gibt es keine, ein paar schöne Lichtblicke strahlen durchs Palmendach und, was mir besonders wichtig ist, wir haben ein echtes Theme. Eines, dass nicht nur im Hauptmenü oder im Intro läuft, sondern tatsächlich wiederkehrt und in andere Tracks inkorporiert wird. Die Musik des Spiels besitzt also eine gewisse Identität – toll!
Insgesamt klingt der Crysis-Score (nicht zu verwechseln mit Crisis Core) wie eine Hommage an den ersten Predator-Film mit Arnold Schwarzenegger. Der war ja weniger Hollywood-Geballer und mehr Survival-Thriller, und dieses Szenario bildet Crysis zumindest zu Beginn ebenfalls ab. Wenn wir durch das Dickicht schleichen und uns vor den anfänglich menschlichen Gegnern verstecken, baut der Soundtrack eine angenehme Dschungelatmosphäre auf, gemischt mit einem Gefühl von Gefahr, die hinter jeder Ecke lauern könnte.
Mal mehr fokussiert auf den Thrill-Aspekt (Terminal, Loss of Pressure, Only a Way in), mal mehr tempoorientiert (The Nexus, Gaining Ground, Losing Time) und abseits dessen mal etwas psychedelisch (Scavengers) funktioniert das Zusammenspiel von Percussions, Streichern und Bläsern (sogar Panflöten!) beklemmend gut. Unterstützt wird dieser Eindruck noch durch die Integration von SFX und Voicelines (By a Thread, Strickland’s March), die etwas Abwechslung in das Einheitsmus bringen, von denen ich indes in den seltensten Fällen wirklich Fan bin. Hier kann ich so gerade noch darüber hinwegsehen.
Neben den Predator-Anleihen kommen bei mir außerdem noch Assoziationen mit weiteren Franchises hoch. First Light versprüht angenehm Uncharted-Vibes und lässt Bilder von dichten Urwäldern und Ruinen entstehen, bevor auf der Hälfte zum ersten Mal der wiederkehrende Marschcharakter des Main Themes erklingt. Das ist zwar nicht unsagbar spannend, aber immerhin etwas … auch wenn ich nicht wirklich traurig darüber bin, dass es in den nachfolgenden Teilen nicht weiterverwendet wurde. Infiltration klingt dagegen mit seinen Streichern wie ein Stück aus der Soul-Reaver-Reihe entliehen und die Theatralik von Sometimes You Lose weckt Erinnerungen an Command & Conquer 3: Tiberium Wars meets Medieval 2 Total War marries Die Chroniken von Narnia.
Jetzt sagen meine geistigen Verbindungen rein gar nichts über die Qualität des eigentlichen Soundtracks aus, sondern sollen nur erklären, warum der Score bei mir heute nicht mehr so hoch rangiert wie damals. Weil es für mich nach Dingen klingt, die ich schon kenne, und diese dann zu unspektakulär macht, als dass es mich hundertprozentig abholt. Gerade die Ambient-Action-Tracks (Legion, Reactor, Shotgun) klingen eher wie aus einer Tabletop-RPG-Verwurstung entliehen, und weniger nach knalliger Shooter-Kost – und schon gar nicht nach Sci-Fi. Ausnahmen bilden hier Grave Danger, das vergleichsweise ruhig beginnt, bevor es klangvoll mit dem Main Theme arbeitet und so einen schönen, diametralen Kontrast herstellt.
Zu guter Letzt noch Undercurrent, das in ähnlicher Form auch aus Call of Duty: Modern Warfare stammen könnte sowie meine Highlights des Scores, Sometimes You Win und Pyrrhic Victory. Beide deuten bereits Zurs Stil an, den er zwei Jahre später in Dragon Age: Origins brillant aufspielen sollte und machen einfach Spaß. Diese Verquickung von kaskadierenden Streichern und dramatischen Bläsern bietet eine heroische Soundkulisse, die ein Abenteuer auf einer einsamen Insel eigentlich nicht verdient hat, die es aber bitter benötigt, um aus der Uniformität der Tribal-Atmo-Hintergrundberieselung auszubrechen und den Score nicht einen von vielen werden zu lassen.
Nostalgiewarnung
Die Wertung der einzelnen Tracks ist rein subjektiv und durch meine eigene Erfahrung mit dem Spiel deutlich gefärbt. Mehr dazu findest du in dem Artikel Über Nostalgie.





