Über Cancel Culture
Ui, da habe ich mir aber ein schönes Thema ausgesucht. Eines, zu dem ich als weißer männlicher Europäer sicher einen wichtigen Beitrag leisten kann und bei dem meine individuelle Ansicht einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit darstellt. Spaß beiseite, ich möchte gar nicht wirklich über das Buzzword ‚Cancel Culture‘ sprechen, da ich zu wenig Ahnung davon habe. Aber es beschreibt eine Problematik, auf die ich während meiner letzten Reviews gestoßen bin und für die ich keinen passenderen Titel finde.
Um das Problem zu umreißen, reicht es, wenn ich ein paar Namen in den Raum werfe: Michael Jackson, J. K. Rowling, Jörg Kachelmann, oder, in meinem Fall, Jeremy Soule. Der Fall ist klar: Es geht darum, ob man Kunst von der Künstlerin oder dem Künstler trennen kann – oder soll? Kann ich ein Werk einer Person gut finden, deren Meinungen ich nicht teile? Die aufgrund von Äußerungen oder Enthüllungen in Verruf geraten sind? Oder muss ich alles verdammen, was jemand irgendwann erschaffen hat aufgrund der aktuellen Umstände?
Ich denke, hier wird es differenzierte Meinungen geben, so wie das bei jedem Thema der Fall ist: Waffenlieferung ja/nein; Tempolimit auf Autobahnen; gibt es einen Gott und wenn ja, hat er oder sie ein Geschlecht; gehört Ananas auf Pizza oder sollte man vielmehr eine Ananas mit Pizza füllen? Es gibt hier kein richtig oder falsch (außer bei der Ananas-Frage), sondern diametrale Moralkomplexe und Weltanschauungen, die aufeinandertreffen.
Durch die Polarisierung der Gesellschaft verblassen die Grautöne, Schwarz und Weiß sind die einzig akzeptierten Farben in einer bunten Welt geworden. Mache ich da mit? Natürlich! Und natürlich nicht! Das eine Thema interessiert oder betrifft mich mehr, da habe ich eine Meinung; beim anderen weniger – da habe ich vielleicht keine, oder meine Meinung ist einfach nicht wichtig genug, als dass ich sie teilen möchte.
Nun habe ich es oben schon angedeutet, dass das Problem deshalb zu Tage getreten ist, weil einer meiner Lieblingskomponisten Teil der MeToo-Diskussion wurde, was schließlich zu seinem Verschwinden aus der Welt der Spielesoundtracks führte. Soule wurde vorgeworfen, er habe eine Entwicklerin vor 10 Jahren (die Anschuldigungen wurden 2019 erhoben) vergewaltig. In der Zeit danach wurden weitere Stimmen laut, die dem Komponisten ähnlich schwere Vergehen vorwarfen. Leider ist seitdem wenig öffentlich geworden über die Verfahren und die Wahrheit der Anschuldigungen.
Ich möchte an dieser Stelle keine Diskussion beginnen, weder für die eine noch die andere Seite Partei ergreifen. Es handelt sich um Vorwürfe, deren Wahrheitsgehalt ich nicht überprüfen kann. Ich glaube an das Prinzip der Unschuldsvermutung, sympathisiere aber mit den Opfern in der Hoffnung, dass der Fall aufgeklärt wird. Da Soule die Anschuldigungen abstreitet und seitdem von der öffentlichen Bildfläche verschwunden ist, könnte man dies als Schuldeingeständnis ansehen, oder dem Rückzug eines zu Unrecht Angeklagten.
Ich wollte an dieser Stelle den Fall nicht weiter sezieren, sondern lediglich die Ausgangslage umreißen. Denn, und nun betreten wir den Bereich der Meinungsäußerung meinerseits, ist es ein Unterschied, ob jemand nachweislich falsch gehandelt hat und ggf. sogar schuldig gesprochen wurde, oder es sich nur um den substanzlosen Aufschrei der Menge handelt. Auch absichtliche Falschaussagen wie im Fall von Gil Ofarim, der nachweislich aufgrund seiner Aufmerksamkeitsgeilheit das Leben eines Hotelmitarbeiters ruinieren wollte, spielen hier mit rein.
Im Fall Soule gibt es also kein Urteil, nur Klägerinnen und Angeklagten und die für mich große Frage: Wie geht man damit um? Ich bin persönlich nicht betroffen und hätte ohne das Internet nie von den Anschuldigungen gehört. Hätte mich Unwissenheit vor einer moralischen Entscheidung bewahrt, oder ist es am Ende egal für mich, wie der Fall ausgeht?
Letzteres sicherlich nicht, denn auch bei Fehlern und Fehlverhalten gibt es Unterschiede. Es ist das eine, etwas zu verkacken, sich unüberlegt zu äußern oder eine begründete andere Meinung zu haben. Und es gibt moralisch und strafrechtlich relevante Fehler, deren Umgang darüber entscheidet, welche Art Mensch man ist. Und hier kommt für mich der entscheidende Faktor hinzu: Beeinflusst das Menschsein die eigene Kunst, oder kann sie als etwas Eigenes stehen?
Rein philosophisch dürfte dies nicht möglich sein, immerhin gibt es bei (geplanten) Erzeugnissen immer auch einen Erzeugungswillen, der aus dem oder der Schöpfer*in geboren wurde. Nimmt niemand einen Pinsel in die Hand oder singt in ein Mikrophon, gibt es auch kein Kunstwerk – logisch. Ist das Werk auch immer unmittelbar Ergebnis der Lebenswelt des Schaffenden? Ich denke schon, stellen wir doch immer die Summe unserer Erfahrungen und Überzeugungen dar.
Aber das ist genau der Punkt, an dem ich einhaken möchte: unserer Erfahrungen und Überzeugungen zu dem Zeitpunkt der Entstehung der Werke. Was will ich damit sagen? Menschen ändern sich. Allein biologisch gibt es ja den Glauben, dass wir uns alle sieben Jahre neu entwickeln. Aus meiner Lebenserfahrung kann ich dies nur bestätigen. Egal, ob es dabei wirklich sieben Jahre, fünf Jahre oder was auch immer sind: Ich bin heute nicht mehr der Mensch, der ich als Kind war; der ich als Teenager war; der ich als junger Student war oder der ich zum Einstieg in die Arbeitswelt war. Nicht umsonst schrieb ich schon in meinem Text Über Nostalgie: „Gegenwarts-Mattis würde vermutlich nichts mit Vergangenheits-Mattis zu tun haben wollen und umgekehrt.“
Wie jeder Mensch bin ich unbestreitbar die Summe meiner Erfahrungen. Aber genauso wie ich Produkt bin, bin ich Produzierender. Meinungen, Überzeugungen und Handlungen, die ich heute treffe, müssen sich allerdings auch nicht zwangsläufig ausschließlich aus meiner Entwicklung speisen. Wenn Corvo morgen überfahren wird, könnte ich auf einen Rachefeldzug gegen alle Autofahrer Kölns gehen, bis ich den Übeltäter gefunden habe. Liegt dies an meiner intrinsischen Motivation nach Gerechtigkeit? Habe ich eine Veranlagung zu diesem Handeln? Oder ist es eine Ausprägung, die sich durch dieses Ereignis katalysiert und manifestiert? Ich schweife ab.
Der Grund, weshalb ich diese Argumentation aufmache, ist nicht, um unmoralisches Handeln zu rechtfertigen. In keinster Weise geht es mir darum, Taten zu gutzureden, wegen derer Jeremy Soule oder andere, potentielle Täter*innen, zu Recht angeklagt werden. Ich möchte damit nur ausdrücken, dass ein Kunstwerk von einer Person zu einem Zeitpunkt X geschaffen wurde, von dem nur die Person selbst weiß, wer sie zu dem Zeitpunkt gerade war.
Macht es das besser? Nein. Und je länger dieser Text wird, umso schwerer fällt es mir, eine kohärente Argumentation zu erarbeiten, ohne andauernd ins Apologetische zu verfallen. Was wollte ich ursprünglich nochmal klären? Ach ja: Lassen sich Künstler*in und Kunstwerk voneinander trennen?
Meiner Meinung nach ist dies eine Betrachtung, die sowohl von den Umständen als auch der individuellen Wahrnehmung abhängig ist. Im Fall Soule, der beim Verfassen dieses Artikels nicht geklärt ist, fällt mir die Entscheidung vergleichsweise leicht: Ja, ich kann Künstler und Kunstwerk trennen. Das liegt hierbei noch nicht einmal zwangsläufig an der Tatsache, dass er bislang nicht verurteilt wurde, da ich selbst dann noch die geistige Trennung vollziehen würde.
Denn ein essenzieller Umstand bei seinen Werken ist meiner Meinung nach, dass es sich um Soundtracks handelt – neben Stockmusik wohl die unpersönlichste Form der künstlerischen Akustik. Anders als das Musikalbum einer Band oder eines Künstlers bzw. einer Künstlerin, spielen hier meistens sehr viel Faktoren und Entscheidungsträger*innen mit rein. ‚Wir brauchen die und die Musik‘, ‚da kommt der und der Moment‘, ‚mach so und so viele Songs‘… ihr seht, was ich meine.
Gleichsam bleibt der Score untrennbar mit der Identität des Spiels verknüpft. Beide können losgelöst voneinander funktionieren, die Musik sogar besser als das Game. Aber genauso wie mir beim Erklingen des Themes „Super Mario Bros.“ Bilder zum Jump ’n’ Run in den Sinn kommen, ertönt beim Anblick von Oberschurke Sephiroth aus Final Fantasy VII sofort „One-Winged Angel“ in den Kopf – und nicht der/die Künstler*in.
Es ist etwas anderes, ob jemand ‚nur ein Teil‘ eines Gesamtwerks beigesteuert hat, oder front and center das Lied singt. Sollten alle Assassin’s Creeds boykottiert werden, weil sich bei Ubisoft ein paar Wenige (aber dennoch zu viele) falsch verhalten haben und damit die Arbeit aller anderen Mitarbeitenden entwerten? Für so eine Kollektivstrafe bin ich zu persönlich nicht dogmatisch genug.
Noch mal ein praktischeres Beispiel aus meiner Wahrnehmung und um bei den Namen von oben zu bleiben, mein Take bezüglich Joanne Rowling: Auch wenn ich die Auftritte und Äußerungen aus jüngster Vergangenheit nicht gutheiße, hat J. K. Rowling mit der Harry Potter-Reihe ein Stück Popkultur geschaffen, das ich würdigen kann. Es gibt Darstellungen, die sich auf die eine oder andere Weise als Ausprägung ihrer Denke interpretieren lassen, aber ich sehe hier eine Romanreihe, die eine fantastische Geschichte über einen Außenseiter in einer magischen Welt erzählt.
Und genauso liebe ich Soules Kompositionen, auch wenn er gerade am Pranger steht. Das heißt nicht, dass ich ihn oder seine Taten gutheiße – im Gegenteil. Aber ich lasse sein Geschaffenes unberührt davon. Ich kann mich mit seiner Musik in die Welten von The Elder Scrolls, Supreme Commander, Company of Heroes und eben auch Harry Potter hineinversetzen, unabhängig davon, wer er als Person ist. Und so schrieb ich bereits Anfang letzten Jahres in meiner Review zu Star Wars: Knights of the Old Republic zum Fall Soule: „Diese Menschen haben mir Freude gegeben, für die ich sehr dankbar bin und die ich mir nicht mehr von ihnen wegnehmen lasse.“
Ich kann diese Werke würdigen, ihren Einfluss auf die Popkultur und meine Stimmung. Ich rechne ihre Existenz ihren Erschafferinnen und Erschaffern an und akzeptiere die Umstände und Intentionen, unter denen sie entstanden sind. Deshalb zum Ende doch nochmal ein schwarz-weißes Meinungsbild: Am Ende ist es eben Kunst. Und die Wahrnehmung und der Umgang mit Kunst ist individuell. Aber wer weiß, vielleicht ändere ich meine Meinung in sieben Jahren auch wieder.