MaybeMe,  Über...

Über Corvo

Ich bin jetzt in dem Alter, in dem Bekannte Kinder bekommen. Letztes Jahr war ich in dem Alter, in dem Bekannte heiraten. Manche älter als ich, manche jünger. Irgendwie wird alles so viel ernster. Oder nicht ernster, aber endgültiger. Entscheidungen, die wir jetzt treffen, beeinflussen unser ganzes restliches Leben. Aber das ist auch schon wieder bescheuert, weil so ziemlich alles, was wir jemals gemacht (oder nicht gemacht) haben, unsere Zukunft beeinflusst. Ein Semester länger studiert, weil man keinen Bock auf die eine Klausur hatte? Zack, anderer Job, andere Freunde, anderes Leben. Gar nicht erst studiert, sondern etwas anderes gemacht? Oder woanders studiert? Gleiches Thema.

Warum also dieser Beitrag? Eben weil es doch ernster wird. Denn plötzlich betreffen die eigenen Entscheidungen nicht mehr nur den eigenen Lebensweg, sondern auch den von anderen. Des Partners oder der Partnerin, des Nachwuchses. Oder in meinem Fall eines anderen Lebewesens. Vor fast genau einem Jahr (ja, ich bin drei Tage zu spät), trat ein Vierbeiner in mein Leben … beziehungsweise er kroch. Wie aus dem Transporter an einer Raststätte an der Bonner Autobahn geboren wurde Corvo alias Macika auf Deutschland und auf mich losgelassen.

Ich weiß noch genau, wie es war: Mit Verspätung im Nacken und einer frisch zahnpastabesprenkelten Seitenwand vom Auto waren mein Bruder und ich mit quietschenden Reifen angekommen. Manche Besitzer hatten ihre Vierbeiner schon in Empfang genommen, andere warteten wie ein sonderbarer Leinen-Kult um den weißen Sprinter, auf dessen Ladenfläche einem Krämerladen gleich dutzende Käfigboxen montiert waren. Darin verängstigte Hunde, die vom Sonnenlicht geblendet und den Geruchseindrücken erschlagen verschüchtert herausblickten.

Ich war super nervös, schließlich hatte ich Corvo bisher nur auf Bildern und kurzen Videoschnippseln sehen können. Als mein Name genannt wurde, ging ich nach vorne und befestigte die Leine an dem türkisen Geschirr, in dem eine Handvoll Hund eingeschüchtert hing. Auf meinem Weg zurück vom Transporter versuchte ich Ruhe auszustrahlen, um dieses Geschöpf zu beschwichtigen – stolperte und fiel hin. Corvo hatte sich vor mich gelegt, fast schon geworfen, und präsentierte mir verängstigt seinen Bauch … und ich der versammelten Meute angehender Hundebesitzer meinen Hintern. Guter Start!

Ein bisschen gekochtes Hähnchen, zögerliche Gehversuche an der Leine und eine Heimfahrt später saß ich alleine mit ihm in meiner Wohnung. Und plötzlich wurde mir klar: Das ist es also. Das hattest du dir immer gewünscht, und jetzt ist es da. War es so, wie ich es mir vorgestellt hatte? Nein. Absolut nicht. Ich hatte keinen Schoßhund bekommen, sondern einen sechsmonatigen Welpen, der nichts kannte – absolut nichts. Keine Autos, keine Türen, nicht mal Reflexionen im Spiegel. Und er stank erbärmlich.

Zwei Tage musste ich auf das Shampoo warten, weil ich ihn nicht alleine lassen wollte. In dieser Zeit näherten wir uns etwas an. Ich spürte seine Dankbarkeit, seine Verfressenheit, und die Wirkung einer Giardieninfektion. Selten wurde mein Garten so gut gewässert wie in der Zeit, als ich Corvos Düngemethoden verdünnen musste. Es war nicht einfach. Jeder Spaziergang war eine neue Herausforderung, für jedes Hindernis nahm ich mir Zeit und zeigte ihm, dass er keine Angst haben müsse. So arbeiteten wir uns vor. Erst Autos, dann Fenster, Mülleimer, Mülltonnen, Baugerüste, Roller, Fahrräder, Menschen, Hunde, andere Tiere, usw.

Eines Abends, als er mich freudig anfiel und wir kurz spielten, hatte ich einen Lachanfall. Und dann weinte ich. Vor Glück? Nein, denn ich wusste, es war viel Arbeit, die auf mich zukam. Aber auch kein Selbstmitleid. Ich hatte, was ich wollte, und hatte es doch noch nicht. Dieser Moment, von dem ich mir eträumt hatte, dass sich mein Leben nun wandeln würde – er kam nicht. Stattdessen war es ein Prozess. Eine Entwicklung, die jetzt nach dem ersten Jahr anfängliche Früchte trägt: Ich gehe jeden Tag zwei Mal raus – das ist zweimal mehr als vorher. Ich richte mein Leben danach aus, wie ich Hund und Alltag miteinander verheiraten kann. Kleinigkeiten halt, nichts Radikales.

Aber den Prozess sehe ich weniger bei mir, sondern bei Corvo. Mit jedem Spaziergang, der besser funktioniert, bin ich froh und stolz auf den Kleinen. Wenn er sich freut, freue ich mich, wenn er Angst hat, versuche ich ihn zu beruhigen. Und wenn er es wieder für nötig hält, den kompletten Hinterhof anzubellen, gibt’s tadelnde Worte. Durch ihn sehe ich die direkten Auswirkungen meine Taten. Jedes Mal, wenn er ängstlich zusammenzuckt, weiß ich, dass es wegen des Regals war, dass in der dritten Woche nachts auf ihn gefallen ist – weil ich sein Wasser darunter geparkt  hatte. Dieses Trauma ist meine Schuld. Gleichzeitig sehe ich, wie glücklich er ist. Auch das ist mein Verdienst. Und mit jedem Mal, mit dem er gelassener reagiert, liegt das an der Sicherheit, die ich versuche ihm zu geben.

Zurück zum Anfang: Es sind nicht die Entscheidungen, die endgültiger werden, es sind ihre Nachwirkungen. Je älter wir werden, desto eher überdenken wir die Konsequenzen – und vermutlich wird dem Erwachsenwerden deshalb nachgesagt, dass man ernster wird, dass man den Spaß verliert. Ich weiß jetzt, dass es nicht darum geht, Entscheidungen nicht mehr leichtfertig zu treffen. Es geht darum, dass wir mittlerweile mehr Lebenserfahrung haben, um die Folgen zu kennen. Klar kann ich mir heute 12 Tequila reinscheppern, dafür weiß ich auch ungefähr, was am nächsten Tag ansteht. Natürlich kann ich Corvo heute die Bratwurst vom Grill geben, aber was dann? Nächstes Mal auch? Und was macht sein Magen damit?

All das sind keine Neuigkeiten. Ich hielt es trotzdem für teilenswert, weil nicht jeder einen Hund hat, verheiratet ist oder Kinder bekommt. Wenn alle diese Einsichten niemandem helfen, ist das fine für mich. Ich habe Corvo. Und ich freue mich auf die nächsten Jahre … vielleicht dann auch ohne Angst vor Bus und Bahn.

Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

de_DEDeutsch