Gris

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  • Original Soundtrack

Erscheinungsdatum: 2018

Art: Original Soundtrack (OST)

Komponist(en): Berlinist

Trackzahl: 27

Wertung

Gram der Gris

Es ist sicherlich keine steile These, dass Kunst im Allgemeinen eine Frage der Interpretation darstellt. Egal ob avantgardistisches Gemälde, expressive Aufführung, romantisches Sonett oder Musik mit Hausschlappen, irgendein Mensch macht es und irgendein anderer – manchmal auch (nur) derselbe – findet es gut. So weit, so bekannt.

Darum ist es kein Wunder, dass es sich bei der Deutungslage von Videospielen ähnlich verhält. Manche sagen, alle Spiele seien Kunst, andere (wenige) dagegen, es sei nur ein Unterhaltungsmedium. Darüber lässt sich vortrefflich streiten, darum soll es hier jedoch nicht gehen, da sich die Diskussion im Falle vom 2018 erschienenen Plattform-Adventure Gris ohnehin erübrigt. Gäbe es eine Checkliste für die Frage „Ist das Kunst?“, könnte man alle zugehörigen Punkte abhaken.

  • „Vielschichtige wie interpretationswürdige Story?“ Check.
  • „Einzigartiger Artstyle?“ Check.
  • „Minimalistisches Gameplay?“ Check.
  • „Ein Name, von dem keiner so genau weiß, wie man ihn richtig ausspricht?“ Check.
  • Und zu guter Letzt: „Ein Indie-Soundtrack, der die Bildgewalt akustisch unterstreicht und zu einem audiovisuellen Spektakel verschmelzen lässt?“ Check.

Ob Kunst oder nicht, es lässt sich nicht bestreiten: Gris ist schön. Nicht zuletzt aufgrund des handgezeichneten Aquarell-Stils, den wir beispielsweise aus Child of Light kennen, ist die Geschichte um die Trauer der namensgebenden Gris ein echter Hingucker. Doch auch die Story an sich bietet genug Tiefgang, dass sich Akademiker*innen mit ihr auseinandersetzen. So schreibt die Seite A Good Death der Universität Cambridge, die sich mit der (schriftlichen) Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Vergänglichkeit in Medien befasst:

Das Spiel basiert auf dem Kübler-Ross-Modell der Trauer, das fünf Phasen der Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz beschreibt. In vielerlei Hinsicht geht es bei Gris jedoch um die Grenzen dieser Muster und die Unmöglichkeit, die Erfahrung des Verlusts in eine zusammenhängende Beschreibung zu destillieren oder zu ordnen. Der Einstieg des Spiels nimmt dem Avatar die Fähigkeit zu singen, lässt sie stimmlos zurück, sich an die Kehle greifend, während die Welt um sie herum zusammenbricht, was darauf hindeutet, dass sie die Fähigkeit zur Kommunikation verloren hat. Der Spieler begleitet das neu verstummte Mädchen auf seinem Weg durch eine wortlose Welt und spürt, was sie durch Farben, Bewegungen und Melodien fühlt.

Der Fokus auf ein emotionsgetriebenes Narrativ und der Versuch, die Psyche und die Gefühlswelt von Protagonistin Gris musikalisch wiederzugeben, stellt den Soundtrack derweil vor die ganz besondere Schwierigkeit, sowohl die Begleitung als auch das treibende Element darzustellen. Dieser Herausforderung stellte sich die spanische Band Berlinist. Die Musiker*innen aus Barcelona beweisen in den 27 Stücken des OSTs ihr Geschick, die bedächtigen, zögerlich vorsichtigen Klänge, sinnbildlich für Gris‘ Gefühlswelt, mit den Kaskaden unkontrollierbarer Gedanken und Ängste zu kontrastieren.

Nehmen wir als Beispiel Perseverance, zu Deutsch ‚Durchhaltevermögen‘ oder ‚Ausdauer‘. Schon früh im Soundtrack von Gris lernen wir, dass das Klavier eines der Schlüsselinstrumente repräsentiert. Behutsam und zart zeichnet es das Bild einer verletzlichen Frau, die im Spiel als grazil, dünn und zerbrechlich, aber ebenso elegant und anmutig dargestellt wird.

Das Stück nutzt das Klavier, dieses Sinnbild für Gris‘ ‚Ruhezustand‘, als Grundlinie. Alles ist gut – denken wir. Doch plötzlich bricht das Emotionschaos herein. Wie in Hans Zimmers Arbeit für Interstellar dröhnt die Orgel, begleitet von Vocals, und überdeckt für ein paar Sekunden das Gleich des Pianos. Ein Moment der Ruhe, der Anfall ist vorbei … als es wieder losgeht. Wie eine Panikattacke überrollt uns immer wieder ein Tumult aus Gedanken. Er verkörpert den Schmerz, das Niederkämpfen der Tränen, die sich aufs Neue Bahn brechen.

Diese Form der Wellenbewegung, die Musik, die durch ihr affektmalerisches Auf und Ab die Gefühle von Gris abbildet, ist ein wiederkehrendes Element des Scores (Debris) und per se nichts Neues für das Genre, aber hervorragend umgesetzt. Im Falle von Perseverance gipfelt das Stück nicht in einer ungezügelten Eskalation, sondern einem Aufbegehren der Emotionen. Dieses Mal übermannen sie uns allerdings nicht, stattdessen lassen wir es zu – kontrolliert, bereit. Die letzte Stufe des Kübler-Ross-Modells: Akzeptanz. Jedoch nicht die letzte Stufe des Soundtracks.

Ein weiterer Schlüsselspieler der Instrumentenriege ist die Geige, die in Stücken wie Lift oder Komorebi als melodischer Akzent genutzt wird. Sie stellt Gris‘ Schwermut dar, erreicht allerdings nie beispielsweise die Niedergeschlagenheit eines Cellos aus der A Plague Tale-Reihe. Zudem ist das Instrument kein Antagonist, kein ‚störendes‘ Element, sondern Teil der Protagonistin. Entgegen der Querflöte, die in Komorebi, Part 2 oder Environments Gris‘ Streben nach Freiheit, nach alter Fröhlichkeit und Leichtfüßigkeit repräsentiert, erden die Streicher ihre Ambitionen, ohne sie wortwörtlich herunterzuziehen.

Doch genauso wie es den natürlichen, gesunden Teil der Trauer gibt, zeigt der Score auch die störenden Elemente, die Zweifel und all das, was zu einer Depression gehört und Gris nicht ausmachen. Beispiel dafür ist Comparison, das mit seinen Verzerrungen in die Grundästhetik dieses klassischen Scores einschneidet. Dem gegenüber stehen die harmonierenden Synthies: Direkt zu Beginn des Albums zeigt Gris, Part 1 mit seinem Zusammenspiel aus Klavier, Streichern und Gesang, einem No Man‘s Sky gleich, was einst war. Als direkter Kontrast zelebriert am Ende Gris, Part 2 in Form der triumphalen Glorifikation von Gris Heilung, was sein wird – herrlich!

Die Mischung aus musikalischer Begleitung und Beschreibung gelingt Berlinist fast durchgängig ausgezeichnet. Der Wechsel der Tempi, mal ruhig und bedächtig (Mae), mal schnell treibend (Chiasm) und dann wieder gefühlvoll (Windmill) sorgt für ausreichend Abwechslung, ohne den Kern der Geschichte, die Überwindung der Trauer, zu verwässern.

Tatsächlich erinnert mich der Score in Stücken wie Symmetry an andere große Beispiele wie Avatar – Der Herr der Elemente, dessen Soundtrack eine ähnlich herausragende erzählerische Komponente aufweist. Lediglich bei den Stücken, die mehr in Richtung typischer Soundtrack-Kost gehen, wie beispielsweise das actiongeladene Unagi, ist es mir etwas zu viel … aber das ist Klagen auf hohem Niveau und absolut subjektiv. So wie Kunst nun mal ist.

Nostalgiewarnung

Die Wertung der einzelnen Tracks ist rein subjektiv und durch meine eigene Erfahrung mit dem Spiel deutlich gefärbt. Mehr dazu findest du in dem Artikel Über Nostalgie.

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