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Über Nostalgie

Jeder kennt das Phänomen und die damit verbundene Verklärung: Früher war alles besser, das Heute kommt nicht an das Damals heran, und so weiter und so fort. Und umgekehrt kennt natürlich jeder, der sich nicht auf diese Vorstellung als Fundament der eigenen Person beruft, die Studien, Tests und Theorien, warum das eigentlich nicht stimmt. Früher war nicht alles besser, früher war vieles anders. Früher waren wir selber anders. Gegenwarts-Mattis würde vermutlich nichts mit Vergangenheits-Mattis zu tun haben wollen und umgekehrt. Von der Zukunft möchte ich erst gar nicht anfangen. Wie häufig habe ich gedacht, dass etwas niemals wieder so sein wird wie jetzt – und das stimmt faktisch. Aber macht es das besser? Der Mensch wächst mit seinen Erfahrungen. Sie sind das, was Alt und Jung unterscheidet (von ein paar Darmspiegelungen mal abgesehen). Und wenn sich Generation Rente oder Ü40 über die Jugend aufregt, dann ist das eine Mischung aus Verklärung und der „So waren wir damals nicht“-Mentalität. Dabei haben unsere Eltern das Gleiche über uns gesagt, und vermutlich deren Eltern auch über sie. Historisch lässt sich dieser Generationenkonflikt ja bis Platon nachverfolgen, der sich bekanntermaßen schon damals über die jüngeren Griechen aufgeregt hat. Das alles ist nichts Neues und jeder, der sich ‚mal mit dem Thema beschäftigt hat‘, dreht sich gerade gelangweilt auf dem Bürostuhl. Warum fange ich also damit an, Omas „Das hätte es früher nicht gegeben“-Sprüche zu kontextualisieren, wenn ich doch eigentlich über Nostalgie sprechen möchte?

Le moi 2009. Teile des Equipments habe ich heute noch, Teile der Behaarung dagegen fehlen. Schade.

Der Gedanke kam mir, während ich wieder einmal eine Soundtrack-Review schrieb (zu Die Siedler 1 – wer reinlesen möchte, darf das gerne tun). Wie so häufig berichte ich da vom Nostalgie-Faktor, wie er meine Wertungen beeinflusst und wie subjektiv meine Bewertung dadurch schlussendlich werden. Klar weise ich überall auf der Homepage darauf hin, dass jeder Text lediglich meine Meinung widerspiegelt und jeder, der meine Reviews liest, diese gerne als Anregung und Diskussionsgrundlage sehen darf, nicht aber als in Stein gemeißelte Wahrheiten. Aber die Erkenntnis, welche Doppelmoral ich propagiere, wurde mir erst klar, als ich mit einem Kollegen über das Thema Podcast sprach und behauptete, dass ja jetzt jeder einen Podcast mache, um seine (oder ihre, ich gendere so ungern) Meinung in die Welt hinauszuposaunen – und dass ich das ja nicht tun würde, weil ich ja keinen Podcast besitze.

Schnitt, wieder zurück zur Siedler-Review, wo ich genau das tue. „Aber das ist ja etwas anderes, viele Leute haben einen Blog oder eine Homepage, andere benutzen Social Media. Podcast gibt es ja tatsächlich mittlerweile wie Sand am Meer, da braucht es nicht noch mehr.“ Braucht es dann mehr Social-Media-Kanäle? Mehr Blogs? Mehr Homepages? Und brauch es diese Webseite? Und wenn es sie nicht braucht, warum mache ich mir die Mühe, meine liebevoll kuratierte Musikbibliothek wie ein 1000 Alben großes Puzzle auszubreiten, Teil für Teil hervorzukramen, anzusehen und dann einzusetzen? Wofür? Und für wen? Der Mattis von damals, als er noch in seinem schimmeligen Keller Siedler II gespielt hat, war ein egoistischer, besserwisserischer Narzisst, der das Wort Empathie kannte, aber viel zu sehr mit sich beschäftigt war. Berichte ich nicht im Grunde von seinen Erfahrungen, seinen Eindrücken, seinen Gefühlen, die er mit diesen Tracks verbindet, wenn ich die „Nostalgie-Warnung“ ausspreche? Werde ich nicht zum Sprachrohr meines vergangenen Selbst, leite ich nicht im Grunde einen Podcast für mein 12-jähriges Ich, anstatt meine Meinung wiederzugeben? Was ist der Sinn dahinter? Und wenn es nicht meine jetzige Meinung ist, sind es diese Tracks objektiv gesehen überhaupt wert, ins Gedächtnis zurückgeholt zu werden?

Nehmen wir dazu die Trine-Reihe als plastisches Beispiel. Der erste Teil der niedlich lustige Puzzle-Plattformer war zu Zeiten seines Release 2009 ein echtes Indie-Juwel und hat mir (damals 16), wie vielen anderen Spielern auch, eine Menge Spaß gemacht. Abgerundet hat das Kleinod die Musik von Komponist Ari Pulkkinen, dessen Songs die magisch mystische Fantasiewelt zum Leben erweckten. Auch heute höre ich die Tracks liebend gern, ein paar habe ich damals sogar fürs Klavier gelernt. Zwei Jahre später erschien Trine 2: Größer, schöner, besser. Das Spiel räumte wieder gute Wertungen ab, machte mir nicht minderviel Spaß und die Musik war so gut wie eh und je.

2015 dann der Bruch: Teil 3 wagte einen neuen Ansatz mit seinem Gameplay und bekam sofort die Rechnung. Kritiker waren enttäuscht, der Metacritic-Score rutschte von 84% (Teil 2) auf 68%. Abgeschreckt vom Shitstorm fasste ich das Spiel nicht an, hörte aber aus Gewohnheit in den Soundtrack rein. Nach wie vor präsentiert uns Pulkkinen die bekannte Fantasiekost, nur machte sie mir dieses Mal weniger Spaß; keiner der Tracks knackte die 5-Sterne-Marke. Im vierten Teil dann ein ähnliches Bild wie zuvor beim Dreier: wieder nicht gespielt, wieder keine Bestnoten im Soundtrack – dabei liegt der Metacritic-Score des Ablegers bei 80%. Da ergibt sich die Frage, ob die Musik, wie Teil 3 auch, objektiv schlechter geworden ist? Möchte man nicht meinen, schließlich hat der Komponist in den ersten beiden Teilen gezeigt, dass er sein Handwerk beherrscht. Und auch wenn jeder Künstler, Kreativer oder Autor mal Ausfallerscheinungen hat, verliert man ja nicht von heute auf morgen die hart erarbeiteten Fähigkeiten – zumal es in diesem Fall ja wirklich more of the same ist. Umgekehrt müsste die Musik vom neusten Teil eigentlich auch wieder auf Trine 1-Niveau sein, ist sie aber für mich nicht.

Hatte Pulkkinen also bei den ersten beiden Teilen einen musikalischen Glücksgriff gelandet und jetzt seinen Drive verloren? Ein schneller Blick auf YouTube verrät, dass die Soundtracks der älteren Teile im direkten Vergleich tatsächlich mehr Likes kassiert haben als die Nachfolger. Die sind umgekehrt aber auch noch nicht so lange draußen, als dass sie ähnlich bekannt wären. Könnte es also sein, dass ich, wie die Leute im Netz, Pulkkinens Musik nur herausragend finde, wenn ich auch das nötige Quäntchen Nostalgie mitbringe? Wo ist dann der Sinn, anderen meine Meinung von vor 15 Jahren auf die Nase zu binden, wenn meine Zuhörer diese Passion niemals werden nachvollziehen können, es sei denn, sie selbst haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Und wie sinnvoll ist es, diesen Menschen etwas zu erzählen, was sie ohnehin schon wissen? Mit anderen Worten: Braucht es eine emotionale Vorerfahrung oder Bindung, damit Musik wirkt? Und wie sinnvoll ist es dann, sie mit kleinen Sternchen zu kategorisieren?

Wahrscheinlich könnten Psychologen, Musikwissenschaftler oder generell schlauere Menschen, wie Zukunfts-Mattis hoffentlich einer wird, eine zufriedenstellende Antwort hierauf geben. Ich für meinen Teil muss für eine konsequente Antwort vielleicht einfach die Überzeugung über Bord werfen, dass Leute ihre Meinung nur sagen sollten, sofern sie Relevanz besitzt. Soll doch jeder einen Podcast machen, und jene, die es interessiert, sollen ihm (oder ihr) zuhören. Am Ende geht es doch vielleicht gar nicht um den Inhalt, sondern die Beschäftigung. Sie üben sich im Sprechen, ich mich im Schreiben. Sie sprechen über Themen, die ihnen wichtig sind und ich, ich rede über Videospiel-Soundtracks. Weil sie mir wichtig sind, auch wenn es kaum jemanden bewegt. Und deshalb weise ich auf die Nostalgie hin, die meine Eindrücke formt, verändert und verzerrt. Denn die Tracks, die Themen, die Melodien sind ein Teil von mir, und vielleicht sind sie ja wirklich objektiv ‚gut‘, auch ohne Nostalgie. Vielleicht hätte Vergangenheits-Mattis meine Artikel gerne gelesen, und wäre stolz auf das, was er 15 Jahre später mal machen wird. Vielleicht hätte er es auch nicht erfahren, weil er damals kein Internet hatte, um sich mitzuteilen. Oder es wäre ihm scheißegal, weil er ein Arschloch war. Früher war eben doch nicht alles besser – oder jeder.

One Comment

  • Muhtin Muther Jr.

    Erster.

    Abseits meines kindischen Dranges nach Aufmerksamkeit bin ich doch sehr über dieses reflektierte digitale Stück Papier sehr überrascht. Die Formulierung, dass der Autor hier zum Sprachrohr seines jüngeren Ich’s wird ist nicht nur syntaktisch sondern auch semantisch hoch interessant. Ist Erinnern ein Sprechen über die Vergangenheit oder ein “die Vergangenheit sprechen lassen“. Aber was nützen hier schon philosophische Ansätze. Das ist nur ein System, in welchem man wieder klugscheißen kann. Viel wertvoller als Philosophie ist doch die Erkenntnis, ja die Einsicht, die der Autor hier hat. Nicht zur Nostalgie an sich, sondern die Verknüpfung zur Doppelmoral und das der junge Mattis eine Öffnung eines Hinterteils war. (Bin ich übrigens auch, manchmal, eher oft). Mit welcher Motivationen nun Texte auf dieser Seite veröffentlicht werden, verklärt, narzisstisch, objektiv, aufmerksamkeitsuchend, als Übung, oder weil man einfach Freude daran hat andere an der eigenen Freude teilhaben zu lassen – ich freue mich bisher über jeden neuen Eintrag und bin dankbar für diese kleinen Toilettenlektüren und Alltagsfluchtpunkte.

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