World of Goo
Erscheinungsdatum: 2008
Art: Original Soundtrack (OST)
Komponist(en): Kyle Gabler
Trackzahl: 27
Ein Soundtrack wie ein Freizeitpark
World of Goo is eines dieser seltenen Spiele, deren Konzept so simpel wie genial ist. Es gilt, einen Haufen Schleimbälle, die namensgebenden Goo Balls, mittels Brücken und Querstreben von Röhre A zu Röhre B zu befördern. Der Clou: Die kleinen Goos sind gleichzeitig auch unser Baumaterial. Benutzen wir zu viele, um das stetig wackelnde Schwabbelkonstrukt zu stabilisieren, fehlen sie uns am Ende für das Beenden des Levels. Sind wir dagegen zu sparsam, bricht unser Machwerk bei zu hoher Belastung zusammen. Es gilt also clever und vorausschauend zu bauen, damit die niedlich quietschenden, glubschbeaugten Kugeln nicht in die zahllosen Abgründe stürzen.
Später kommen noch weitere Arten von Goos hinzu, wie entzündliche Streichholz-Köpfe oder Stachelbälle, die sich an Wänden festhalten können. Was schon 2008 genauso knuffig wie spaßig war, lässt heute Erinnerungen an eine Zeit hochkommen, als so etwas Simples wie Angry Birds oder Blobby Volley ausgereicht hat, um ein paar Stunden rumzubekommen. Fürs Spiel gibts von mir also schon mal eine Empfehlung! Aber was hier der wirkliche Geheimtipp ist, könnt ihr euch bestimmt denken: die Musik.
Der Anspruch, den Soundtrack von Kyle Gabler zu klassifizieren, ist ungefähr so sinnvoll, wie die Zeitschriften im ärztlichen Wartezimmer abzulecken. Kann man machen, ist aber für Außenstehenden nicht nachvollziehbar und am Ende ist man krank. Da ich dies in Coronazeiten zu vermeiden versuche, bekommt ihr direkt zu Beginn von mir den Hinweis, einfach einmal reinzuhören. Denn dieses abwechslungsgeladene Musikspektakel ist ähnlich hörenswert wie abgedreht. Kaum ein Track gleicht dem anderen, und würde man nur der Musik lauschen, ohne das Spiel zu kennen, könnte World of Goo alles sein. Vom kunterbunten Jahrmarktsimulator bis zur Matrix-Spielversoftung – der Soundtrack lässt sich nicht einordnen. Der Grund ist simpel: World of Goo war ein Zwei-Mann-Projekt und Gabler nicht nur Komponist, sondern auch Illustrator, Designer und Autor. Die Musik stammt deshalb auch zum Teil aus zahlreichen seiner Nebenprojekte. Dieser wilde Mischung macht den OST aber eben so einzigartig.
Dennoch gibt es ein paar wiederkehrende Muster: Während nur wenige Tracks einem durchgängigen Thema und einer Stimmung folgen, brechen viele der Songs ab der Hälfte mit dem zuvor Gehörten: Regurgitation Pumping Station beginnt wie der klassische Establisher im Film Noire. Ein paar Zupfer am Kontrabass, begleitende Hi-Hat und ein wenig Klaviergeklimper. Klingt nach der typischen Detektive-Geschichte, dem Murder-Mystery, wird dann aber schneller und erinnert mit seiner Wah-Gitarre an die Beverly Hill Cops-Filme der 80er. Zack, vorbei. Es geht wieder vorne los, wieder im Jazz-Restaurant, später erneut auf den Straßen. Dann endet der Track. In diesem Fall lässt sich eine narrative Nähe nicht leugnen, beides Detective-Musik, beides atypisch erzählt – in einem Spiel wohlgemerkt, in dem es darum geht, Schleimbälle zu navigieren.
Anderes Beispiel: Jelly. Mit seinen wellenförmigen 16tel Sechstolen als Dreiklangsbrechung in D-Dur (das wusste ich natürlich und habe es mir nur zur Sicherheit von einer Musiklehrerin in meinem Bekanntenkreis überprüfen lassen) emuliert es zu Beginn noch eine seichte Brise. Wir sehen förmlich das Spiel des Windes über der Landschaft, das Vorüberziehen der Wolken. Das Lied wird treibender, eine Drum gibt den Takt an, der Wind bauscht auf und flaut wieder ab. Es scheint, als wäre da die Atmo eines vorbeifahrenden Zuges, das Rattern der Waggons auf den Schienen. Jetzt spielen Flöten (erneut energisch) bevor uns schlussendlich eine E-Gitarre wuchtig, wie beim Einstieg eines Zack Snyder Films, aus der Verträumtheit reißt. Das alles geschieht ebenso fließend wie unvermittelt, es gibt keine logische Reihenfolge. Obwohl es dem klassischen narrativen Aufbau von ruhiger Einleitung, knalligem Hauptteil und retardierendem Schluss folgt, fühlt es sich gleichzeitig sequenziert und unzusammenhängend an.
Dieses Bild setzt sich auch bei der anfangs angesprochenen akustischen Divergenz der musikalischen Tropen fort. Wir hören Akkordeons, Streicher, Bläser, E-Gitarren, Vocals und sogar eine Maultrommel. Jahrmarkt, Western, Cyber. Screamer klingt mit seinen Synthies und kreischenden Gitarren wie ein Sci-Fi-Actionthriller Marke Blade Runner und Deus Ex, Happy New Year ™ Brought to You by Product Z mit Chor und Streichern nach Dracula. Fans von 8-Bit-Mucke bekommen hingegen mit My Virtual World of Goo Corporation etwas zum persönlichen Wohlbefinden, und Red Carpet Extend-o-matic ist mit seinen 90s-Synthesizern für mich als Fan vom Sailor Moon-Intro und dem Soundtrack vom Sims-Addon Megastar Grund genug zum abdancen.
I wrote this in 2001 as a joke for a music class in undergrad. Only the beginning of this song is used in the game, and for only one level. […] it comes with a warning – this song is designed to sound like a crappy 90’s dance song, one of my favorite genres. The singer was an astrophysicist major named Jessica.
Komponist Kyle Gabler über Red Carpet Extend-o-matic
Besonders augenfällig an dem OST sind zusätzlich noch die häufigen Tempovariationen innerhalb der Tracks. Rain Rain Windy Windy hält uns gefangen zwischen der schnellen, fröhlichen Leichtigkeit und Unbeschwertheit von Geigen und Flöten und den langsamen, getragenen Blechbläsern und Vocals, bricht immer mal wieder kurz aus und wird wieder eingefangen. Tumbler beginnt stattdessen im Stil eines Action-Pieces bereits schnell, die Kastagnetten klackern fröhlich zum Akkordeon, das Tempo steigert sich, weiter und weiter ins Unmenschliche – und dann: der Bruch. Das Theme kriecht als Kontrast gefühlt im Schneckentempo voran, das Fröhliche wird zum Tragischen.
Ich könnte jetzt noch weiter machen und mir so gut wie jedes der 27 Lieder herauspicken, die fast ausnahmslos alle eine Besonderheit besitzen oder eine musikalische Trope abbilden. Wie eingangs gesagt, wäre das aber nicht zielführend. Was ich hingegen nicht kann, ist diese Review beenden, ohne wenigstens einmal auf das wirklich fantastische Best of Times hinzuweisen, das es sogar in meine Top 100 Videospiel-Tracks geschafft hat. Eine Ode, der dieses kleine Indiegame über ein paar lächerlich süße Schleimbälle in keiner Weise gerecht wird, und die es andersherum auf so ein derart pathetisch hohes Level hievt – einfach meisterhaft.
Kyle Gabler zeigt hier eine erahnbares, aber nicht zu erwartendes kompositorisches Feingefühl, das mich beeindruckt und bewegt. Es mag kitschig sein. Es mag, wie Brave Adventurers, meinem Faible für Bombast und Gravitas, meine primitive Neigung zum Martialischem befriedigen. Aber wenn mir dann die Brusthaare anfangen zu sprießen und ich mich auf die Jagd nach Mammuts begeben möchte, reicht ein Blick in diese knuddeligen Goo-Augen, und schon bin ich wieder der sesselfurzende Nerd, der Reviews über seine Lieblingssoundtracks schreibt. MOM, I Am Coming Home.
Den kompletten Soundtrack sowie etwas Trivia über die einzelen Tracks gibts übrigens zum kostenlosen Download auf Kyle Gablers Homepage!
Nostalgiewarnung
Die Wertung der einzelnen Tracks ist rein subjektiv und durch meine eigene Erfahrung mit dem Spiel deutlich gefärbt. Mehr dazu findest du in dem Artikel Über Nostalgie.
Nr. | Titel | Interpret(en) | Bewertung |
---|---|---|---|
01 | World of Goo Beginning | Kyle Gabler | |
02 | The Goo Filled Hills | Kyle Gabler | |
03 | Brave Adventurers | Kyle Gabler | |
04 | Another Mysterious Pipe Appeared | Kyle Gabler | |
05 | World of Goo Corporation | Kyle Gabler | |
06 | Regurgitation Pumping Station | Kyle Gabler | |
07 | Threadcutter | Kyle Gabler | |
08 | Rain Rain Windy Windy | Kyle Gabler | |
09 | Jelly | Kyle Gabler | |
10 | Tumbler | Kyle Gabler | |
11 | Screamer | Kyle Gabler | |
12 | Burning Man | Kyle Gabler | |
13 | Cog in the Machine | Kyle Gabler | |
14 | Happy New Year (tm) Brought to You by Product Z | Kyle Gabler | |
15 | Welcome to the Information Superhighway | Kyle Gabler | |
16 | Graphic Processing Unit | Kyle Gabler | |
17 | Years of Work | Kyle Gabler | |
18 | My Virtual World of Goo Corporation | Kyle Gabler | |
19 | Hello, MOM | Kyle Gabler | |
20 | Inside the Big Computer | Kyle Gabler | |
21 | Are You Coming Home, Love MOM | Kyle Gabler | |
22 | Ode to the Bridge Builder | Kyle Gabler | |
23 | The Last of the Goo Balls and the Telescope Operator | Kyle Gabler | |
24 | Best of Times | Kyle Gabler | |
25 | Red Carpet Extend-o-matic | Kyle Gabler | |
26 | World of Goo Corporation's Valued Customers | Kyle Gabler | |
27 | World of Goo Ending | Kyle Gabler |